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Hussam, der Chefredakteur bei kohero, durfte bei dieser Bundestagswahl nicht wählen. Wie viele Menschen in Deutschland hat er trotzdem am Sonntagabend die Ergebnisse der Bundestagswahl im Fernsehen und auf Social Media verfolgt. Hier teilt er seine Gedanken und die Fragen, die noch offen geblieben sind.
Für mich war neben den Ergebnissen auch die Wahlbeteiligung 2021 sehr wichtig, die bei 76,6 % in ganz Deutschland lag. Diese Zahl zeigt mir, dass die Teilhabe an der Demokratie tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Sie ist im europäischen Vergleich zwar nicht die höchste, auch nicht die schlechteste – aber ich finde, es ist ein wichtiges Zeichen für das Vertrauen in die Demokratie vieler Millionen Menschen.
Zu den vorläufigen Ergebnissen habe ich einige Gedanken und Fragen. Einerseits sehe ich, dass es keine Volksparteien mehr gibt – jedenfalls nicht gemessen an den Wähler:innenstimmen. Oder sind 25% bis 26% genug, um diesen Titel zu behalten? Ich frage mich immer was es bedeutet, eine Volkspartei in einer vielfältigen, demokratischen Gesellschaft zu sein? Auch wenn diese Partei in einem Wahljahr viele Stimmen bekommt, irgendwann kann sie diese wieder verlieren. Denn auch “das Volk” verändert sich. Und das ist genau, was mit CDU und SDU passiert ist. Aber auch die Grünen, mit dem wichtigen Thema Umweltschutz und dem Kampf gegen den Klimawandel, werden nicht zur neuen Volkspartei. Vielleicht braucht die deutsche Gesellschaft keine Volksparteien mehr?
Gleichzeitig ist eine Mehrheit der Wähler:innen noch an der Mitte des politischen Spektrums interessiert. Extreme Kandidat:innen wie z.B. der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen bekamen weniger Zuspruch als 2017. Der Versuch der Thüringer CDU, gleichzeitig in der Mitte und am rechten Rand zu stehen, ist gescheitert.
Das Wahlergebnis ist eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert.
Eine große Frage ist, ob Armin Laschet die Verantwortung für den historischen Verlust der CDU/CSU trägt? Es wird schon viel diskutiert. Ich persönlich glaube, dass die CDU/CSU im Jahr 2021 nicht mehr wie die ‘Mutter’ oder der ‘Vater’ von allen Wähler:innen auftreten kann, besonders nicht ohne Angela Merkel. Was Deutschland nach 16 Jahren von Merkels Stabilität braucht, sind neue Ideen und neue Gesichter. Ich glaube, dass auch deswegen viele der GroKo-CDU-Kandidat:innen (z.B. Peter Altmeier, Julia Klöckner oder AKK) ihre Direktmandate verloren haben.
Die Zeit ist gekommen, dass die CDU/CSU in die Opposition geht. Dadurch bekommt sie die Chance, sich neu zu organisieren, sich neu zu orientieren und auch viele Fehler der letzten Jahre (Stichworte: Maskenaffäre oder Maut) reflektiert. Gleichzeitig ist das Wahlergebnis eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert, viele sind zu anderen Parteien gewechselt, weil sie neue Antworten suchen.
Die Grünen haben die Veränderungen in der Gesellschaft schon länger gesehen. Vielleicht aber haben sie den Wunsch nach Veränderung in der Politik überschätzt. Oder wie ist ihr Wahlergebnis von unter 15% zu bewerten? Auf der einen Seite ist es 7,5% mehr als 2017, auf der anderen Seite gab es vor ein paar Monaten noch die Hoffnung auf 20, 22 oder 25%. Ich habe bei dem grünen Wahlkampf etwas Wichtiges über Fehlerkultur gelernt: Die Menschen sind sehr sensibel, was die Fehler von Annalena Baerbock angeht. Als neue Politikerin ohne Regierungserfahrung haben viele Wähler:innen das Vertrauen in sie schnell wieder verloren. Viele Menschen konnten ihr nicht verzeihen und wollten Baerbock keine zweite Chance geben, obwohl es in der deutschen Politik genug Beispiele für Fehler und Verzeihen (oder Vergessen) gibt. Die Frage, ob die Grünen nun gewonnen (im Vergleich zu 2017) oder verloren (im Vergleich zu den Erwartungen oder Chancen) haben, beantwortet jede:r Wähler:in unterschiedlich. Vielleicht haben sie auch verloren, obwohl sie gewonnen haben.
Migration, Flucht und Asyl sind nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland.
Für mich war es eine große Erleichterung, dass die SPD nicht von ihren Kolleg:innen in Dänemark beeinflusst wurde. Sie hat nicht versucht, mit einer harten, migrationskritischen und Anti-Geflüchteten-Politik Wähler:innen zu gewinnen. Das kann auch daran liegen, dass Migration, Flucht und Asyl nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland sind, wie sie es 2017 waren. Die SPD hat mit ihrem (überraschenden) Erfolg jetzt die Möglichkeit, ihre eigene sozialdemokratische Politik zu machen, ohne dass diese von der CDU und Frau Merkel verschluckt wird. Die Frage ist, was wird das Ergebnis? In der Koalition zwischen SPD und Grüne 2002 wurde das Konzept für Hartz IV geboren. Hartz IV ist, wie viele Dinge in Deutschland, ein sehr altes Model und braucht dringend eine Modernisierung.
Für mich als Geflüchteter, Syrer, Mensch mit Migrationshintergrund und/oder nicht wahlberechtigter Hamburger ist diese Wahl auch besonders interessant, weil viele Menschen die ich kenne, eine große Bewunderung für Bundeskanzlerin Merkel haben. Von Syrer:innen wird sie Mama Merkel genannt. Die Gesetze ihrer Partei waren in den letzten sechs Jahren nicht wirklich vorteilhaft für Geflüchtete und Migrant:innen. Trotzdessen verbinden viele Geflüchtete mit ihr eine Willkommenskultur und die Chance auf ein neues Leben in Sicherheit und Freiheit.
2021 wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.
Vielleicht sollten wir auf die vielen Abgeordneten gucken, die neu in den Bundestagswahl gewählt (oder wieder gewählt) wurden, die aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, als Mensch mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in Deutschland zu leben. 2017 wurden von den 709 Abgeordneten auch 58 mit dem sogenannten “Migrationshintergrund” gewählt, so der Mediendienst Integration. 2021 hat sich diese Zahl nochmals vergrößert und es wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.
Die beiden erfolgreichsten Direktkandidat:innen der Grünen heißen Cem Özdemir und Canan Bayram. Frankfurt am Main hat zum ersten Mal zwei Direktkandidaten mit Migrationsgeschichte in den Bundestag gewählt: Omid Nouripour (Grüne) und Armand Zorn (SPD). In Schwerin hat Reem Alabali-Radovan zum ersten Mal ein Direktmandat für eine Abgeordnete mit Migrationsgeschichte geholt (für die SPD). Sie sagte der dpa dazu: “Das hat für mich eine besondere Bedeutung, da ich zum einen ein modernes Bild von Mecklenburg-Vorpommern im Bundestag repräsentieren kann”. Viele Syrer:innen freuen sich mit ihr und auch mit Lamya Kaddor (Grüne) aus Duisburg. Der 28-jährige Kassem Taher Saleh kann für die Grünen in Sachsen die Perspektive von geflüchteten Menschen vertreten, er ist selbst im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. In seiner Bewerbungsrede als Landesvorstandssprecher der Grünen 2018 sagte er: “Politische Erfahrung bedeutet für mich, zu wissen, wie es sich anfühlt im Asylheim zu wohnen und trotz der Barrieren Teil unserer städtischen Gesellschaft zu werden”.
Abgeordnete mit Flucht- oder Migrationserfahrung sind in einer schwierigen Position.
Dabei ist es mir auch wichtig zu sagen, dass unsere Gesellschaft sehr vielfältig ist. Außerdem bedeutet politische Repräsentation, dass wir mit der Zeit diese Vielfalt auch im Bundestag sehen werden. Aber ein Mensch, ob aus dem Irak geflüchtet oder mit Großeltern aus der Türkei, kann unmöglich alle Menschen “mit Migrationshintergrund” repräsentieren. Es gibt keine einheitliche Gruppe “die Flüchtlinge” oder “die Syrer:innen”, sondern sehr viele unterschiedlichen Communities und Meinungen.
Und ich finde auch, dass die Abgeordneten mit Flucht- oder Migrationserfahrung in einer schwierigen Position sind. Auf der einen Seite ist die Erwartungshaltung, dass sich Politiker:innen für alle Wähler:innen und Bürger:innen einsetzen. Auf der anderen Seite gibt es hohe Erwartungen aus ihren Communities, dass sie sich für ihre Themen einsetzen. Neue deutsche Politiker:innen stehen besonders im Fokus und jedes ihrer Worte wird analysiert und unter dem Titel “Identität” doppelt untersucht. Die neuen Abgeordneten mit ihrer vielfältigen, internationalen Geschichten können aber auch Brückenbauer:innen zwischen der Mehr- und der Minderheit werden. Die Frage ist, ist es fair, diese hohen Erwartungen nur ihnen gegenüber zu haben?
Der Chefredakteur von MIGAZIN hat auf Twitter gefragt: “Wenn heute Millionen nicht wahlberechtigte Ausländer mitwählen dürften, würde #noAfD die meisten Stimmanteile verlieren. Dieses Potenzial wurde auch bei dieser #btw21 nicht abgerufen. Warum?”
Ich finde, wir können das nicht so genau sagen. Auch Menschen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft können konservativ oder rechts denken und wählen. Aber das Ergebnis einer symbolischen Wahl für Nicht-Wahlberechtigte, veranstaltet von dem Netzwerk WIR WÄHLEN in 14 Städten, zeigt, dass die AfD mit 0,7% der Stimmen doch sehr unbeliebt ist. 2021 waren 9,5 Millionen Menschen, die in Deutschland leben aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, nicht wahlberechtigt. Das sind laut WIR WÄHLEN ungefähr 14% der volljährigen Bürger:innen in Deutschland.
Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen.
Auch ich darf nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Obwohl ich seit sechs Jahren in Deutschland lebe, arbeite und (wie ich finde) mich gut in diese Gesellschaft integriert habe. Trotzdem darf ich die Zukunft dieses Landes nicht mitbestimmen. Noch nicht einmal die Zukunft meiner Stadt oder meines Viertels. Obwohl immer gesagt wird, dass wir keine Parallelgesellschaft haben möchten, werden Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ausgegrenzt. Ich finde es schwer, mich zu 100% zugehörig zu fühlen, wenn ich hier nicht wählen darf. Mit dem Wahlrecht wäre ich ein noch aktiveres und engagierteres Mitglied der deutschen Gesellschaft. Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen.
Seit zwei Jahren habe ich die Volt Partei und ihre Ideen verfolgt und ich habe mir gewünscht, dass sie es bei dieser Wahl doch in den Bundestag schaffen. Sie sind eine sehr junge Partei und soweit ich das erkennen kann, haben sie viel mehr Politiker:innen ohne Migrationsgeschichte … aber ich finde die Basis ihrer Ideen sehr interessant, besonderes für uns Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte. Wenn wir Politik auf der europäischen Ebene sehen, könnten wir vielleicht weniger über das Deutschsein oder die deutschen Leitkultur sprechen. Unsere Zugehörigkeitsempfinden wird stärker, wenn wir uns nicht nur auf die deutsche Identität konzentrieren.
Heute, zwei Tage nach der Bundestagswahl, freue ich mich auf jede nächste Wahl in Deutschland. Die Ergebnisse bringen uns nicht nur Zahlen und Fakten. Sie sind auch ein Zeichen dafür, wie die Gesellschaft sich verändert, welche Probleme es gibt und welche Lösungen sich die Wähler:innen wünschen. Die Mehrheit in diesem Wahjahr für die SPD und die vielen Stimmen für Grüne und FDP bedeutet für mich, dass es eine Mehrheit für neue und kreative Ideen gibt, für Digitalisierung, für Veränderung ohne Angst vor der neuen Zeit.
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